Der Islam im Licht des Evangeliums V

Eberhard Troeger

Offenbarung oder menschliche Gedanken?

Wie sind die Erlebnisse Muhammads, die er als Offenbarungen Gottes bezeichnet hat, zu verstehen? Der Koran berichtet von Visionen und Hör-Erlebnissen und gibt sie als Rede des Engels Gabriel aus, der Muhammad Worte Gottes eingab. Gabriel "stand aufrecht da (in der Ferne) ganz oben am Horizont. Hierauf näherte er sich und kam (immer weiter) nach unten und war (schließlich nur noch) zwei Bogenlängen (?) (entfernt) oder (noch) näher (da). Und er gab seinem Diener jene Offenbarung ein. Was er (so leibhaftig) gesehen hat, hat er nicht (etwa) sich selber vorgelogen." (Sure 53, 6 - 11). Die Worte Gottes sollen in einer himmlischen Urschrift stehen. "Bei der deutlichen Schrift! Wir haben sie zu einem arabischen Koran gemacht... Sie (oder: Er, d.h. der Koran) gilt in der Urschrift...bei uns als erhaben und weise." (Sure 43, 2 - 4).

Als Beweis für die Echtheit der Offenbarungen führen Muslime an, dass Muhammad nicht lesen konnte (vgl. Sure 29, 48) und deshalb unmöglich den Inhalt seiner Hör-Erlebnisse anderen heiligen Büchern entnommen haben könnte. Ferner preist man die absolute Vollkommenheit der arabischen Sprache des Korans, die es ausschließe, dass Muhammad als Dichter ihr Schöpfer gewesen sei. Im Islam wird deshalb jeder Koranvers als ein wunderbares Zeichen Gottes gerühmt.

Die westliche Islamforschung hat sich bemüht, die Einflüsse von Judentum, Christentum und arabischem Heidentum auf den Koran nachzuweisen. Der kritische Betrachter muss zu Recht vermuten, dass Muhammad in seiner Heimatstadt und auf seinen Reisen jüdische und christliche Gedanken - allerdings zumeist in außerbiblischen Verzerrungen – kennen gelernt, aufgenommen und verarbeitet hat. Sie verdichteten sich in ihm zu dem Wunsch, dass auch sein arabisches Volk zum Eingottglauben gelangt.

Warum wurde Muhammad nicht Jude oder Christ?

Wahrscheinlich sah er dazu keinen Anlass. Denn unter den Arabern gab es schon vor Muhammad und auch zu seiner Zeit einzelne an Gott glaubende Menschen (der Koran nennt sie Hanif), die sich vom Götzendienst abgewandt hatten, aber nicht Juden oder Christen geworden waren. Vermutlich verstand sich Muhammad zunächst als ein solcher Gottgläubiger. Die Wertschätzung Abrahams, der weder Jude noch Christ, sondern ein 'muslimischer Hanif' war (vgl. Sure 3, 67), zeigt, dass Muhammad eine Alternative zum Judentum und Christentum, d.h. einen typisch arabischen Monotheismus suchte. Möglicherweise hatten die Christen, mit denen Muhammad zusammentraf, bei ihm den Eindruck hinterlassen, dass der christliche Glaube für bestimmte Völker, aber nicht für das arabische Volk gelte. Vermutlich konnte Muhammad das Evangelium nicht in seiner arabischen Muttersprache hören; deshalb blieb es für ihn letztlich etwas Fremdes. Das deutet auf ein Versagen der Kirche jener Zeit im Blick auf eine kulturell angepasste Mission unter den Arabern hin.

Muhammad begnügte sich nicht damit, inmitten seines heidnischen Volkes als Gottgläubiger zu leben. Er wollte offensichtlich mehr. Er wollte eine arabische Variante des Gottesglaubens. Er verlangte nach einer schriftlich festzuhaltenden Offenbarung, d.h. einem Buch mit göttlichen Worten, wie es die Juden und Christen, die sogen. 'Schriftbesitzer' hatten. Vielleicht litt Muhammad darunter, dass sein arabisches Volk weitgehend noch dem Götzendienst anhing, während andere Völker längst zum Glauben an den einen Gott gekommen waren? Vielleicht liegt in diesem Leiden psychologisch gesehen die Ursache für sein Sendungsbewusstsein und der Glaube an seine Offenbarungen.

Muhammads Hörerlebnisse

Es ist kaum daran zu zweifeln, dass Muhammad in der Frühzeit seines religiösen Wirkens übernormale Seh- und Hörerlebnisse hatte. Ob dies auch für die spätere Zeit gilt, in der er langatmige Gesetzestexte lehrte, ist mehr als zweifelhaft. Im Licht der biblischen Offenbarung ist es aber ausgeschlossen, dass Gott, der Vater Jesu Christi, durch einen Engel zu Muhammad gesprochen hat. Dafür sind die Widersprüche zwischen den biblischen und den koranischen Aussagen zu groß. Die Christusoffenbarung und der Islam Muhammads schließen sich gegenseitig aus. Im Licht der biblischen Offenbarung können Muhammads Hörerlebnise nicht als von Gott kommend verstanden werden.

Dennoch ist Muhammad als ein bedeutender und - mindestens in seiner Mekkaner Zeit - subjektiv ehrlicher Mensch zu würdigen. Er hat, beeinflusst vom jüdischen und christlichen Eingottglauben, eine neue religiöse Weltanschauung entwickelt, in der Gottesglaube und Weltbejahung miteinander verschmolzen sind. Dieser religiösen Ideologie ist durchaus Achtung zu zollen, aber im Licht der Bibel ist sie ein menschliches Gedankengebäude.

Christen können zugeben, dass die biblische Offenbarung in der Geschichte des Christentums laufend zur Weltanschauung verfremdet worden ist, und zwar nicht nur an ihren sektiererischen Rändern, sondern auch in den Großkirchen. Es hängt mit der sündigen Natur des Menschen zusammen, dass auch glaubende Christen die Wahrheit Gottes immer wieder in menschlichen Gedanken entstellen. Die christliche Verkündigung und Lehre hat sich deshalb immer neu am biblischen Zeugnis auszurichten und einem ständigen Reformationsprozess unterliegen. Christen können dies bußfertig anerkennen in dem Vertrauen, dass der Heilige Geist die biblische Wahrheit immer wieder neu aufleuchten lässt.

Wie Gott sich offenbart hat

Für das biblische Verständnis von Offenbarung ist wesentlich, dass Gott sich unter wechselnden geschichtlichen Bedingungen auf sehr verschiedene Weise verschiedenen Menschen in Gebot und Zusage, in Verheißung und Handeln bekannt gemacht hat. In seinem Offenbaren erweist sich Gott als der Lebendige. Er wird daran erkannt, dass sein Verheißungswort eintrifft. Die biblischen Bücher sind ein vielstimmiger Chor zahlreicher Zeugen. Sie decken einen großen Zeitraum der Menschheitsgeschichte ab, in welchem sich zahlreiche Verheißungen erfüllt haben. Die biblische Offenbarungs- und Heilsgeschichte ist deshalb hinterfragbar. Im Islam dagegen hängt alles am Of#fenbarungsanspruch eines einzigen Menschen. Wer kann nachprüfen, ob Muhammad wirklich Worte aus Engelsmund gehört hat? War jemand dabei, der dies bezeugen konnte? Und wenn Muhammad Stimmen hörte - hat er das Gehörte auch exakt wieder- und weitergegeben? Es kann dafür keinen Beweis geben.

Im biblischen Offenbarungsgeschehen werden Menschen und Menschengruppen Bundespartner Gottes. Die göttliche Selbstoffenbarung schafft ein personales Verhältnis zwischen Gott und diesen Menschen. Deshalb erreicht die Offenbarung ihren Höhepunkt, indem Gottes Wort in der Person Jesus Christus in die Menschheit eingeht: "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns." (Johannes-Evangelium 1, 14). Die schließlich schriftlich festgehaltenen Zeugnisse vom Reden und Handeln Gottes, wie wir sie in den biblischen Büchern finden, bleiben immer relativ zu dem lebendigen Gott selbst. Sie schieben sich nicht als Gesetz zwischen Gott und Mensch (wie im Islam, aber auch im Judentum und über weite Strecken in der Geschichte des Christentums), sondern führen zur Gemeinschaft mit Gott hin. Wir können das biblische Offenbarungsverständnis so zusammenfassen: Gottes Wort ist personal und wurde in Jesus zur Person. Im Islam wird dagegen Offenbarung so verstanden, dass Gottes Wort eine zeitlose, im Koran festgehaltene Lehre ist.

Fortsetzung folgt!

Quelle: Vom Verfasser leicht überarbeiteter Ausschnitt aus: E. Troeger, Kreuz und Halbmond. Was Christen vom Islam wissen sollten, Wuppertal 1996, S. 114ff. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.